Schlagwort: gedichtinterpretation

  • Gedichtanalyse

    Gedichtanalyse – richtig schreiben

    Immer wieder taucht die Frage auf, wie man denn eigentlich eine Gedichtanalyse richtig verfasst. Auch wenn es kein hundertprozentiges Patentrezept für das Erstellen einer Gedichtanalyse gibt, so kann man sich doch immer an einem Leitfaden orientieren, um eine in sich stimmige Gedichtanalyse zu verfassen.

    Den Anfang der Gedichtanalyse bildet die Einleitung. In dieser nennen Sie den Namen des Autors, den Titel des Gedichts, die Art des Gedichtes und seine Entstehungszeit. Die Epoche, in der ein Gedicht verfasst wurde, ist bei einer Gedichtanalyse immer sehr wichtig, weil sich dadurch hilfreiche Hinweise für die Interpretation ergeben. Um der Gedichtanalyse gleich von Anfang an eine persönliche Note zu geben, können Sie in der Einleitung auch Ihren ersten Eindruck beim Lesen festhalten oder beispielsweise Bezug auf ein aktuelles Geschehen nehmen. Vielleicht wissen Sie ja auch ein passendes geschichtliches Ereignis aus der Entstehungszeit, das die Einleitung auflockert und dem Leser die Lektüre schmackhaft macht.

    Im Folgenden müssen Sie einen Hauptteil verfassen, in dem Sie das Gedicht analysieren und deuten. Dabei muss darauf geachtet werden, dass es bei einer Gedichtanalyse darum geht, ein Gedicht zu interpretieren, also seinen Sinn zu deuten. Es reicht daher nicht aus, einzelne Passagen des Gedichts nachzuerzählen, sondern es müssen konkrete Beispiele im Text genannt und interpretiert werden, z.B. „der Autor benutzt das Stilmittel der Alliteration, um dem Leser seine Einsamkeit zu verdeutlichen“.
    Ausschlaggebend bei einer Gedichtanalyse sind dabei immer folgende Bestandteile:

    – die Art des Gedichts: ist es ein Sonett, eine Ballade, ein Haiku, eine Ode etc.
    -welches Reimschema wurde verwendet: Paarreim (aabb), umarmender Reim (abba), Kreuzreim (abab), oder Schweifreim (aabccb)
    – welche Reimformen wurden angewendet: männliche, einsilbige Reime, wie z.B. Tisch – Fisch; weibliche, zweisilbige Reime, wie z.B. Weise – Reise; reicher, dreisilbiger Reim, wie z.B. glühende – blühende; Schlagreime, also direkt aufeinanderfolgende sich reimende Wörter, wie z.B. Helden melden schlimme Kriege… oder Anfangsreime, das sind Reimwörter direkt am Zeilenanfang, wie z.B. Still ist es im ganzen Haus, Will ich auch endlich hinaus…
    -für welches Versmaß (Metrum) hat sich der Autor entschieden: für den dynamischen, frischen Jambus (unbetont – betont – unbetont – betont), den eher schwerfälligen und träge wirkenden Trochäus (betont – unbetont – betont – unbetont), den beweglichen und tänzerischen Daktylus (betont – unbetont – unbetont – betont) oder den langsam steigenden und damit belebend wirkenden Anapäst (unbetont – unbetont – betont – unbetont)
    – beachtet werden muss immer auch der Satzbau des Gedichtes
    – eine Gedichtanalyse sollte immer auch die vom Autor verwendeten Stilmittel berücksichtigen, wie z.B. Allegorie, Alliteration, Anapher, Chiasmus, Ellipse, Emblem, Enjambement, Euphemismus, Methapher, Symbol, Vergleich, Personifikation oder Wortneuschöpfungen.

    Schließlich muss bei der Gedichtanalyse auf den Inhalt des vorliegenden Textes eingegangen werden. Was sagt der Titel aus, was ist das Thema des Gedichtes?, sind Fragen, die gleich am Anfang der inhaltlichen Gedichtanalyse beantwortet werden sollten.
    Dann sollten Sie die Hauptaussagen des Gedichts der Reihe nach durcharbeiten und dem Leser ihre (vielleicht verschlüsselte Botschaft) aufzeigen. Dabei müssen Sie sich in der Gedichtanalyse immer auf Ihre vorher erarbeiteten Ergebnisse (wie Versmaß, Sprachstil, Verwendung von Stilmitteln usw.) beziehen, um zu einer stimmigen Interpretation zu gelangen. Am Ende des Hauptteils sollte eine klare inhaltliche und stilistische Gliederung des Gedichts vorliegen.

    Im letzten Teil einer Gedichtanalyse, dem Schluss, müssen Sie zu einem Fazit gelangen. Dafür fassen Sie noch einmal die wichtigsten Aussagepunkte, auf die Sie während Ihrer Interpretation gekommen sind, für den Leser anschaulich zusammen. Auch darf eine eigene Meinung am Ende einer Gedichtanalyse nicht fehlen, die Sie aber immer stichhaltig begründen sollten. Wenn Sie nun noch den Gedanken aus der Einleitung aufgreifen und einen abschließenden Satz formulieren, ist Ihre Gedichtanalyse zu einem guten Abschluss gekommen!

    Weitere Gedichtinterpretation Tipps

  • Willkommen und Abschied – Gedichtinterpretation Johann Wolfgang Goethe

    Gedichtinterpretation „Willkommen und Abschied“ von Johann Wolfgang Goethe

    In dem Gedicht „Willkommen und Abschied“ von Johann Wolfgang Goethe geht es um einen Mann, der zu seiner Geliebten reitet und von Vorfreude erfüllt ist. Doch schon bald müssen sie sich wieder schmerzlich trennen.
    Äußerlich ist das Gedicht in 4 Strophen zu je 8 Versen eingeteilt. Als Reimschema verwendet Goethe den Kreuzreim. Er verwendet sowohl weibliche Reime, als auch männliche Reime. Er beschränkt sich nicht nur auf reine Reime, sondern verwendet ebenso auch unreine (z.B. Götter – Wetter). Die auffälligsten Stilmittel dieses Gedichtes sind die häufigen Gegensätze, die Personifizierung, das Symbol und die Metapher.

    In der 1. Strophe (Zeile 1-8) beschreibt der Autor seine Umgebung.
    Johann Wolfgang Goethe schreibt das Gedicht aus der Sicht des lyrischen Ich („mein“). Sein Herz „schlug“. Das ist ein  Zeichen dafür, dass er voller Leben ist, vielleicht auch aufgeregt, denn er reitet „geschwind“. Dass „der Abend … schon die Erde“ wiegt, zeigt, dass es langsam dunkel wird, „an den Bergen“ ist es schon Nacht. An dieser Stelle verwendet er die ersten Personifizierungen („Abend wiegt“, „hing die Nacht“). Der Nebel legt sich auf die Erde nieder, die Eiche wirkt wie „ein aufgetürmter Riese“. Jetzt wird eine Metapher verwendet. Alles ist gruselig, finster und unsicher. Er kann auf Grund der „Finsternis“ nicht sehen, was in „dem Gesträuch“ vor sich geht. Das ist eine Art Unsicherheit. Er fühlt sich beobachtet („hundert schwarze Augen“). Es ist oft so, dass man sich im Dunkeln unsicher fühlt, weil man nicht weiß, wo die Gefahr lauert. Man vermutet sie überall, fühlt sich beobachtet, als ob die „Finsternis … hundert schwarze Augen“ habe. Die Finsternis ist ein Symbol für die Unsicherheit, welche er verspürt-

    In der 2. Strophe (Zeile 9 –16) berichtet er weiterhin von seiner Umgebung, jedoch kommt jetzt noch sein Gefühl dazu.
    Er sieht, wie der „Mond … kläglich aus dem Duft hervorschaut“- Mit „Duft“ ist der Nebel gemeint. Der Mond „sah“ (Personifizierung)  „kläglich“ hervor. Das wirkt auf ihn vermutlich so, weil der Mond von Nebel umgeben ist. Er hat nicht wie sonst eine klare Sicht zum Mond, sondern alles ist verschleiert. Der Wind weht ihm „schauerlich“ um die Ohren. Das verstärkt noch das Gefühl des Grusels in ihm. Er schreibt, dass die „Nacht … Ungeheuer“ schuf. Das kommt ihm vermutlich so vor, weil er so achtsam ist und sich so sehr darauf konzentriert, was passiert, dass er sich schon Sachen einbildet. Doch er ist nicht so verängstigt, dass er zurückkehrt. Nein, sein Mut ist „frisch und fröhlich“. Das lässt vermuten, dass ihn an seinem Ziel etwas Großartiges erwartet, in seinen „Adern“ brennt „Feuer“. Dieses Feuer ist ein Symbol für Adrenalin. Er hat zwar Streß (Ungewissheit der Dunkelheit), jedoch ist es ein positiver Streß, denn am Ende erwartet ihn etwas Tolles, dem er mit Leidenschaft („in meinem Herzen welche Glut“) entgegenfibert.

    In der 3. Strophe (Zeile 17-24) beschreibt er das Treffen mit ihr.
    An dieser Stelle nimmt das Gedicht eine Wende. Aus der Einsamkeit wird eine Zweisamkeit. Jetzt erzählt das lyrische Ich nicht mehr, sondern spricht jemanden direkt an („Dich sah ich“). Aus der Unsicherheit wird nun eine „milde Freude“, somit genau ein Gegensatz. Statt der „schwarzen Augen“ (1. Strophe) trifft ihn nun ein „süßer Blick“. Sein „Herz“ ist an ihrer Seite „ganz“. Es ist nicht mehr geteilt von der Unsicherheit und der Vorfreude, sondern nur noch von „milder Freude“ erfüllt. Es gibt für ihn nur noch sie, alles andere zählt nicht mehr. „Jeder Atemzug für“ sie. Dies zeigt seine große Liebe zu ihr, welche keine Grenzen kennt. Nun sieht er nur noch durch die rosarote Brille. Trotz Dunkelheit sieht er „ein rosafarbenes Frühlingswetter“. Er ist von „Zärtlichkeit“ umgeben. An dieser Stelle spricht er die „Götter“ an. Er hat es „gehofft“, aber nicht „verdient“, wie er meint. Dies lässt vermuten, dass es für ihn so schön ist, dass er nicht versteht, womit er so etwas schönes verdient habe.

    In der 4. Strophe (Zeile 25-32) geht es um den schmerzvollen Abschied der Geliebten.
    Es wird Morgen („Morgensonne“) und der Abschied kommt. Es ist sehr schmerzvoll für das lyrische Ich. Dies zeigt sich daran, dass es ihm das Herz „verengt“. Ihre Küsse waren eine Wohltat („Wonne“), doch nun ist es „Schmerz“. An dieser Stelle wird wieder ein Gegensatz verwendet. Nun bekommt auch die Überschrift des Gedichtes „Willkommen und Abschied“, in der auch ein Gegensatz steckt, einen Sinn. Erst verspüren sie die Freude des Wiedersehens („Willkommen“), nun den „Schmerz“ der Trennung („Abschied“). Als er geht, steht sie da und sieht „zur Erde“. Dies zeigt die Niedergeschlagenheit, sie lässt den Kopf hängen. Sie hat einen „nassen Blick“. Dies bringt ihre Traurigkeit verstärkt zum Ausdruck. Für ihn steht über der Traurigkeit das „Glück, geliebt zu werden“. Für ihn ist die kurze Zeit der Freude wichtiger, als die lange Zeit ohne sie. Er freut sich, dass er die schöne Zeit erleben durfte und weint nicht, dass sie vergangen ist. Er empfindet es als „Glück“ zu „lieben“. Hier spricht er wieder die Götter an, wahrscheinlich um ihnen für die Fähigkeit zu lieben zu danken.

    Das Gedicht ist sehr typisch für die „Sturm und Drang“-Zeit. Das lyrische Ich wird verwendet. In dieser Zeit galt es als Ideal sich selbst zu leben, die Subjektivität des Menschen stand im Vordergrund, welche durch das lyrische Ich dargestellt wird. Die Natur, der Mensch, die Liebe und die Götter kommen in diesem Gedicht vor. Diese Elemente waren in Goethes Liebeslyrik der „Sturm und Drang“-Zeit unzertrennlich. Er war sich der Natur bewusst und verband sie mit der Liebe. Auch verwendet er viele Personifizierungen und Symbole, wenn er die Natur beschreibt. Die Menschen dieser Zeit wollten sich das Geschriebene bildlich vorstellen können, wollten fühlen, was sie lasen. Durch diese Stilmittel ist das gut möglich.

    Ich finde dieses Gedicht sehr schön, da es im kleinen zeigt, woran die Welt im Großen krankt – nämlich am eklatanten Mangel an der  Fähigkeit zu Lieben. Leider haben  die meisten Menschen unserer Zeit die Fähigkeit bedingungslos zu lieben verloren, da jetzt der Profit im Vordergrund steht. Auch zeigt es, dass man vergangenen Stunden nicht nachtrauern sollte, sondern sich freuen sollte, dass man sie erleben durfte. Dies ist meiner Meinung nach eine wichtige Erkenntnis, die es einem ermöglicht glücklich zu sein und Trauer schneller zu überwinden. Diese Erkenntnis fehlt den meisten Menschen jedoch.

     

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  • GedichtInterpretation „Der Einsiedler“ von Joseph von Eichendorff

    GedichtInterpretation „Der Einsiedler“ von Joseph von Eichendorff

    Der Einsiedler

    komm, Trost der Welt, Du stille Nacht!
    Wie steigst Du von den Bergen sacht,
    Die Lüfte alle schlafen,
    Ein Schiffer nur noch, wandermüd,
    Singt übers Meer sein Abendlied
    Zu Gottes Lob im Hafen.

    Die Jahre wie die Wolken gehn
    Und lassen mich hier einsam stehn,
    Die Welt hat mich vergessen,
    Da tratst Du wunderbar zu mir,
    Wenn ich beim Waldesrauschen hier
    Gedankenvoll gesessen.

    O Trost der Welt, Du stille Nacht!
    Der tag hat mich so müd gemacht,
    Das weite Meer schon dunkelt,
    lass ausruhn mich von Lust und Not,
    Bis dass das ew’ge Morgenrot
    Den stillen Wald durchfunkelt.

    Aufgabe: Interpretiere das Gedicht unter besonderer Berücksichtigung darin enthaltener religiöser Bilder!

    Das Gedicht „Der Einsiedler“ von Joseph von Eichendorff hat drei Strophen mit jeweils sechs Versen und ist der Epoche der Romantik zuzuordnen. Es handelt von einem Lyrischen Ich, das in einer Trauerphase durch Gott Trost findet. Durch diese Trauer hat das Gedicht eine etwas schwermütige und melancholische Wirkung.
    Eichendorffs Gedicht ist in drei Strophen mit jeweils sechs Versen aufgebaut und reimt sich. Die ersten beiden Verse haben immer acht Silben, der dritte und der sechste Vers immer sieben Silben und die Verse vier und fünf immer acht Silben.
    In der ersten Strophe des Gedichtes wird beschrieben, wie die Nacht hereinbricht und ein müder Schiffer noch ein Abendlied singt um Gott zu loben. In der darauf folgenden Strophe berichtet das Lyrische Ich davon, dass es sich die letzen Jahre einsam und von der Welt verlassen gefühlt hat, bis jemand zu ihm gekommen ist. Die Situation des Lyrischen Ich’s wird auch in der dritten und letzen Strophe deutlich. In ihr bittet das Lyrische Ich darum, sich von dem Tag und der Not ausruhen zu dürfen, bis das ewige Morgenrot den Wald durchfunkelt. Alle diese Strophen sind Jamben. Genau wie die Anzahl der Silben wechseln auch männliche und weibliche Kadenzen. Der erste, zweite, vierte und fünfte Vers haben eine männliche Kadenz und die Verse drei und sechs eine weibliche. Die Reime des Gedichts bestehen aus pro Strophe aus jeweils zwei Paarreimen und einem umarmenden Reim. Die Paarreime befinden sich dabei in Vers eins und zwei und in Vers vier und fünf. Der umarmende Reim befindet sich in den Versen drei und sechs. Auffällig ist dabei der Paarreim in Vers vier und der ersten Strophe. Bei ihm handelt es sich um einen unreinen Reim. (Achtung: Hier hätte eigentlich der Schweifreim hingemusst, aber bei uns hat man auch meine Beschreibung gelten lassen!) Eine weitere Auffälligkeit in der Sprache des Gedichtes ist der häufige Gebrauch von Wörtern wie „Nacht“, die Dunkelheit steht jedoch nicht für etwas negatives, sondern für Gott als Trostspender. Als das Lyrische Ich sich schon ganz verlassen und alleine fühlt,  findet es in Gott Trost, da dieser es seine Sorgen vergessen lässt. Dies ist jedoch nicht der einzige religiöse Bezug in dem Gedicht. Das Abendlied, das der Schiffer übers Meer singt, lässt sich als Abendgebet zu Gott deuten. Diese Interpretation wird auch durch den darauf folgenden Vers „Zu Gottes Lob im Hafen“ (Strophe 1, Vers 6) unterstützt. Aufgrund der Lebensgeschichte des Dichters lassen sich auch noch weitere Rückschlüsse auf die Gefühle des Lyrischen Ich’s schließen. Eichendorff verlor sehr früh seine Frau und fühlte sich dadurch wahrscheinlich genau wie der Sprecher sehr einsam. Da er eins ehr religiöser Mensch war, konnte er wie das Lyrische Ich in dem Gedicht Trost bei Gott und im Glauben finden. Dadurch lassen sich auch die vielen religiösen Bezüge im Gedicht erklären. ein weiterer dieser Bezüge ist das in Strophe drei beschriebene „ew’ge Morgenrot“ (Vers 5). Dieses steht für das ewige Licht dass in Kirchen zu finden ist. Die Epoche des Gedichtes ist die Romantik. Dies lässt sich z.B. an dem typischen Thema der Sehnsucht erkennen. Es wird in der Sehnsucht des Lyrischen Ich’s nach Trost deutlich. Außerdem lässt sich die Romantik an dem gebrauch von Wörtern wie „Nacht“, „einsam“, „Waldesrauschen“ und „stille“ erkennen. Diese erzeugen eine romantische Stimmung. Zusammenfassend kann man sagen, dass es in dem Gedicht um die Trostspendende Wirkung Gottes geht und dass das Gedicht durch die Lebenshaltung des Dichters viele religiöse Bezüge aufweist.

    Note: 2-

     

  • Gedichtinterpretation Städter Alfred Wolfenstein

    Alfred Wolfenstein – Städter [„sukzessive Vorgehensweise“]

    Das Gedicht „Städter“ von Alfred Wolfenstein entstand im Jahre 1914, während des sogenannten „expressionistischen Jahrzehnts“ (Benn), also in der Zeit, in der der Expressionismus die vorherrschende künstlerische und damit auch literarische Strömung war. Charakteristisch für diese Epoche ist das Thema des Gedichts; die Großstadt, die oftmals
    als wider der menschlichen Natur kritisiert wurde.
    Obwohl der Expressionismus gegen alles Althergebrachte aufbegehrte und sich wenig um literarische Konventionen scherte, hat der Autor bewusst die klassische Form des Sonetts mit dem Reimschema „a b b a“ in den Quartetten bzw. „ a b c  c a b“ in den Terzetten gewählt. Die häufige Verwendung von Enjambements allerdings, kennzeichnend für den sogenannten Hakenstil, ist ein erstes Anzeichen für die offensichtliche Diskrepanz von Form und Inhalt. Die Konvergenz von Form und Inhalt ist eine von nahezu allen Epochen zuvor propagierte Konvention, die der Expressionismus über Bord warf. Die harmonische und vor allem traditionelle Form des Sonetts birgt nämlich im Falle Wolfensteins „Städter“ eine alles andere als harmonische, sondern vielmehr eine beklemmende und deprimierende Vision, die des Lebens in der modernen Stadt.
    Der Titel des Gedichts, „Städter“, lässt sich mehrdeutig interpretieren. Natürlich könnten die Bewohner der Stadt gemeint sein. Der Titel könnte aber auch aus der Selbsterkenntnis des lyrischen Ich herrühren und in diesem Falle die eigene Existenz als determiniert und geprägt vom Leben in der Großstadt klassifizieren.
    Das Gedicht beginnt abrupt mit dem invertierten Adjektiv „dicht“(1), das aufgrund des, bis auf eine Ausnahme(2), durchgehend trochäischen Versmaßes betont und damit zusätzlich hervorgehoben wird. Dieses Adjektiv tritt auffallend häufig auf, insgesamt drei Mal (3), und jedes Mal allein schon durch das Versmaß betont. Auf diese Weise wird dem Leser die Enge der Stadt deutlich vermittelt.
    Wolfenstein vergleicht metaphorisierend die Fenster der Häuser mit den „Löcher[n] eines Siebes“(4), um eben diese Enge gleich zu Anfang des Gedichtes zu zeigen. „Häuser [fassen] sich so dicht an“(5), dass dazwischen kein Platz mehr für Menschen bleibt und selbst„die Straßen / Grau geschwollen wie Gewürgte stehn“(6). Der Effekt, der schon mit diesen Versen des ersten Quartetts beim Leser erzielt wird, gründet sich, über die Stärke und Konnotativität bestimmter Begriffe wie „geschwollen“ oder „Gewürgte“ hinaus, auch auf ihren stilistischen Reichtum. Sowohl bei den Häusern, die sich nicht nur berühren, sondern „[an]fassen“(5), als auch bei den Straßen, die „Gewürgte[n]“(6) gleichen, wird eine Personifikation deutlich. Außerdem lässt sich an der letzten Zeile des ersten Quartetts eine Alliteration aufzeigen.
    Die oben erwähnte These jener Diskrepanz von Form und Inhalt im Expressionismus, die lediglich anhand der Tatsache, dass das Gedicht eine Sonettform aufweist, aufgestellt wurde, lässt sich somit nur unter Vorbehalt – nämlich dem, sie nur auf eine oberflächliche Gesamt- betrachtung anzuwenden – aufrecht erhalten. Denn innerhalb der einzelnen Verse bedingen sich Form und Inhalt regelrecht, wie man an der zitierten letzten Zeile des ersten Quartettes erkennen kann.
    Das zweite Quartett hingegen thematisiert dagegen weniger die unbelebten Elemente der Stadt, sondern ihre Einwohner. Diese werden aus der alltäglichen Straßenbahnfahrt herausgerissen und unwirklich skizzenhaft und depersonifizierend als bloße „zwei Fassaden / Leute“(7) geschildert. Dass sie als „Ineinander dicht hineingehakt“(8) charakterisiert werden, könnte als Zeichen der inneren Distanz des lyrischen Ich zu seinen Mitmenschen aufgefasst werden; Menschen, die sich ineinander verhaken, bilden eine für den Einzelnen nicht zu durchdringende Kette. Dieses Bild des Ineinandergreifens bezieht Wolfenstein jedoch nicht nur auf die Personen an sich, sondern auch auf ihre Blicke. Die Menschen in der Tram, deren „Blicke“ in denen anderer Leute „baden“(9) gehen, scheinen keine Scham zu kennen. Das lyrische Ich scheint sich von dieser unfreiwilligen Nähe bedroht zu fühlen, und natürlich muss man diese Schilderung auch synekdotisch verstehen: Gemeint ist mit dieser „Trambahnmetapher“ das gesamte beklemmende und einengende Leben in der Stadt, nicht nur die Fahrt mit der Trambahn. Auf entlarvende Weise werden hier die Oberflächlichkeit der Stadtbewohner und die durch die räumlichen Gegebenheiten erzwungene scheinbare Intimität geschildert.
    Zu Beginn des ersten Terzetts findet vorübergehend ein Wechsel der Perspektive statt. Anstelle des lyrischen Ich spricht jetzt ein „lyrisches Wir“ im Plural. „Unsre Wände sind so dünn wie Haut“(9) stellt der Städter(10) fest und konstruiert auf diese Weise eine Art Schicksalsgemeinschaft: „wir, die Städter“. Allerdings ist dieser Wechsel der Perspektive nicht von Dauer, bereits im nächsten Vers lässt sich ein Sprung zurück in die erste Person Singular erkennen, wenn das lyrische Ich folgert: „Dass ein jeder teilnimmt wenn ich weine“(11). Meiner Meinung nach wäre es jedoch ein gravierender Fehler, dieses „Teilnehmen“ im Sinne von „Anteil nehmen“ zu interpretieren. Das genaue Gegenteil ist der Fall; in Wahrheit nimmt niemand Anteil, wenn ein isolierter Mensch – für alle hörbar – zu weinen beginnt. Seine Nachbarn reagieren vielmehr, gereizt von dem „Gegröle“(12), zu dem alles „Flüstern [und sogar] Denken“ (12) aufgrund der Hellhörigkeit der billigen Mietshäuser pervertiert wird, entnervt. Schon innerhalb dieses ersten Terzetts lässt sich somit ein antithetisches Moment erkennen.
    Doch eine um einiges gewichtigere und leichter zu erkennende Antithetik wird deutlich, wenn man das zweite Terzett dem ersten gegenüber stellt. Oberflächlich betrachtet, behandelt das erste eine Art von – wenn auch unerwünschter – Nähe, das zweite die vollkommene Isolation des Individuums „in dick verschlossner Höhle“(13). Im ersten hingegen wird noch die Durchlässigkeit der Wände beklagt. Ein scheinbarerer Widerspruch also, der sich jedoch bei näherer Betrachtung schnell auflöst.
    Wie oben erwähnt, läuft jedes gesprochene Wort Gefahr, zu einem unangenehmen und peinlichen „Gegröle“(12) zu mutieren. Die Konsequenz aus dieser Empfindung und der der beengenden Blicke(14), ist der Rückzug ins Private. Das Individuum scheint unfähig, die angenommene Gefühlskälte und unterdrückte Aggression der Menschen zu verarbeiten; darum isoliert es sich. Vielleicht ist diese innere Emigration aber auch nicht freiwillig, sondern aufgrund sozialer Ausgrenzungsmuster erfolgt. Tatsache ist jedoch, dass sie erfolgt ist, wenn in der letzten Zeile resigniert konstatiert wird: „Steht ein jeder fern und fühlt: alleine“(15). Dieser letzte Vers resümiert nicht nur die vorangegangene Strophe, sondern auch das gesamte Sonett. Denn die Erkenntnis, dass trotz aller flüchtigen Nähe und der offenkundigen Platznot in der Stadt „jeder“(15) schließlich doch zur Vereinsamung verurteilt ist, steht nicht zufällig an zentraler Stelle.
    An dieser Stelle wäre es interessant zu wissen, ob das lyrische Ich seine Empfindung auf alle Bewohner der Stadt projiziert und damit nur von sich selbst auf alle anderen schließt, oder ob das Gedicht quasi einen Vertretungsanspruch der gesamten Stadtbevölkerung reklamiert. In diesem Falle würde sich die Interpretation Wolfensteins Gedicht um eine sozialkritische Dimension erweitern –  bisher erschien mir die expressionistische Kritik an der Großstadt und anderen Erscheinungen des Industriezeitalters lediglich rückwärtsge