Schlagwort: Woyzeck analyse

  • Woyzeck Interpretation Analyse Szene 1 Hauptmann

    Im folgenden findet ihr eine Analyse/Interpretation/Gesprächsanalyse der ersten Szene mit dem Hauptmann

    In der Szene „beim Hauptmann“ aus dem Fragment „Woyzeck“ von Georg Büchner findet ein Dialog zwischen dem Protagonisten Franz Woyzeck und seinem Vorgesetzten, dem Hauptmann statt.
    Woyzeck, von Beruf Soldat, leidet stark unter seinem gesellschaftlich niederem Stand und den damit verbundenen Demütigungen durch die in der Gesellschaft höher gestellte Schicht. Er ist Opfer von wissenschaftlichen Experimenten und eigenen Angstvisionen, die ihn letztlich zusammen mit der Untreue seiner Freundin in den Abgrund stürzen. Während des zu analysierenden Gespräches sitzt der Hauptmann auf einem Stuhl und lässt sich von Woyzeck für einen kleinen Nebenlohn rasieren.

     

    Das Zusammentreffen beider Personen wird nicht beschrieben, wodurch auch keine Eröffnungsphase vorzufinden ist. Der Leser erhält einen abrupten Einblick in die Szene. Der Anfang des Dialogs stellt den Gesprächsrand dar mit einem ungewöhnlich großen Umfang (vgl. S. 5, Z. 1-26). Er zeichnet sich dadurch aus, dass der größte Redeanteil dem Hauptmann zufällt, der fortwährend Plattitüden und Floskeln von sich gibt. Bei dem Gedanken an das Fortschreiten der Zeit wird der Hauptmann melancholisch (vgl. S. 5, Z. 9ff). Doch sein Gesagtes scheint inhaltlos zu sein. Durch seine Ausdrucksweise entlarvt er seine geistige Oberflächlichkeit: „Ewig, das ist ewig, das ist ewig […], nun ist es aber wieder nicht ewig […].“ (S. 5, Z. 11ff.) Er scheint von Dingen zu reden, die er selber nicht versteht. So erklärt er beispielsweise den Begriff „Ewigkeit“ durch sich selber. Seine auftretende Melancholie beim Gedanken an ein „Mühlrad“ (S. 5, Z. 15f.), lässt ihn zudem lächerlich bis skurril erscheinen. Woyzeck hingegen schweigt zunächst beharrlich. Als Untergebener ist er gewohnt, vorschriftsmäßig mit kurzen Floskeln auf die Vergewisserungsformeln des Hauptmannes einzugehen (vgl. S. 5. Z. 6f., 15f.). So sind keine Selbstwahlen beim Sprecherwechsel von Seiten Woyzeck vorzufinden. Woyzecks niederem sozialem Status entsprechend wagt er es nicht, direkt auf das Gerede des sozial gehobenen Hauptmannes einzugehen, ihn sogar zu verbessern oder zu kritisieren. Auf die irrsinnige Frage „Ich glaub, wir haben <Wind> so (…) aus Süd-Nord?“ (S. 5, Z. 25) antwortet Woyzeck dementsprechend gehorsam mit: „Jawohl, Herr Hauptmann.“ (S. 5, Z. 26). Es stellt sich heraus, dass die Frage einzig vom Hauptmann gestellt wurde, um sich über den Soldaten lustig zu machen. Er lacht ihn hemmungslos aus und bezeichnet ihn als „dumm“ ( S. 5, Z. 27f.). An dieser Stelle offenbart sich ganz deutlich die Arroganz des Hauptmannes.
    Erst im Folgenden beginnt die Kernphase des Gespräches, in der sich das Hauptthema des Dialoges entfaltet: Besitzen auch arme Leute Moral und Tugend? Auffällig ist, dass die Gesprächsanteile der Dialogpartner nun sehr ausgeglichen sind im Gegensatz zum oberflächlichen Gesprächsrand, der mehr einem Selbstgespräch gleicht. Der Hauptmann wirft Woyzeck vor, er habe keine Moral. Seine Definition von Moral zeigt jedoch wieder, dass er selber keine wirkliche Vorstellung davon hat: „Woyzeck, Er hat keine Moral! Moral, das ist, wenn man moralisch ist“ (S. 5, Z. 29ff.). Das Fehlen einer Moral führt er darauf zurück, dass Woyzecks Kind unehelich geboren wurde und diesem somit der Segen der Kirche versagt bleibe (vgl. S. 5, Z. 31f.). Jedoch betont er noch im selben Satz, dass jenes die Meinung vom Garnisonsprediger und nicht die seine sei. Diese Aussage nimmt Woyzeck zur Basis, um endlich Stellung beziehen zu können, ohne seinen Vorgesetzten direkt zu verbessern. Sein Gegenargument entnimmt er der Bibel: „der liebe Gott wird den armen Wurm nicht drum ansehen […]. Der Herr sprach: Lasset die Kleinen zu mir kommen!“ (S. 5, Z. 35ff.). Diese Aussage überrascht den Hauptmann zunächst. Seinem Unvermögen zu formulieren, was er

    denkt, – augenscheinlich zu erkennen an den Gedankenstrichen, die bei beim viel mehr für den Verlust von Gedanken stehen (vgl. S. 5, Z. 13, 20) – treten nun handfeste Argumente Woyzecks entgegen. Um davon abzulenken, versucht er das Gespräch auf eine persönliche Ebene zu verlagern und kritisiert Woyzeck direkt: „Was sagt Er da? Was ist das für eine kuriose Antwort?“ (S. 5-6, Z. 39f.). Woyzeck aber lässt sich nicht beirren. Die Frage nach der Tugend der Armen betrifft ihn und sein Leben persönlich und im Gegensatz zum Hauptmann, vermag er die Dinge beim Namen zu nennen: „Unsereins ist doch einmal unselig in der und der anderen Welt.“ (S. 6, Z. 6). Für Woyzeck steht fest, dass Tugend und Moral untrennbar mit dem sozialen Status der höheren gesellschaftlichen Schichten verbunden ist. Arme Leute wie er selber können es sich nicht leisten, moralisch zu handeln, auch wenn sie es wollten. So überwog bei ihm das „Fleisch und Blut“, also seine Gelüste und er zeugte ein uneheliches Kind. Der Hauptmann geht auf die Frage nach dem sozialen Status nicht weiter ein. Somit verhindert er, dass eine vollständige Gesprächssequenz zustande kommt. Stattdessen greift er nur das „Fleisch und Blut“ auf und gesteht, dass auch in ihm der Anblick auf ein schönes Mädchen Lüste hervorruft. Um diese Gelüste zu beschönigen, bringt er sie jedoch in Zusammenhang mit der „Liebe“, sodass er nach seiner Formulierung trotz derselben Schwächen tugendhafter bleibt als Woyzeck: „wenn ́s geregnet hat, und den weißen Strümpfen so nachseh, (…) da kommt mir die Liebe!“ (S. 6, Z. 10ff.). Der Hauptmann scheint, als wolle er allzu gern seinen Trieben folgen. Doch er bleibt seinem Idealismus treu und bringt sich selber zur Besinnung, indem er sich regelmäßig einredet: „du bist ein tugendhafter Mensch, (…) ein guter Mensch, ein guter Mensch.“ (S.6, Z. 15f.) Woyzeck macht jedoch klar, dass die armen Leute fest verknüpft sind mit dem Materialismus und sich Idealismus nicht leisten können. Getreu dem Ausspruch eines bekannten Dramas: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“ (Dreigroschen Opfer) ist die höchste Priorität das Überleben, dann erst die Tugend. Woyzeck verliert sich in der Träumerei, reich zu sein (vgl. S. 6, Z. 19ff.), stellt jedoch schließlich resigniert fest: „Aber ich bin ein armer Kerl.“ (S. 6, Z. 22f.)

    Der Hauptmann leitet schließlich die von ihm einseitig gehaltene Beendigungsphase ein. Während des ganzen Dialoges ist er kein einziges Mal wirklich auf Woyzecks Gesagtes eingegangen. Er scheint das, was Woyzeck sagt, nicht verstehen zu können und ist Woyzeck geistig klar unterlegen. Er nennt das Gespräch einen „Diskurs“, ohne dabei einen richtigen Beitrag zur Thematik gemacht zu haben. Er schmückt sich einzig durch Floskeln und Plattitüden und macht selbst in seiner Verabschiedung einen Rückgriff auf das inhaltlose Randgespräch „Zeit“, statt auf die Kernthematik: „Geh jetzt, und renn nicht so; langsam, hübsch langsam die Straße hinunter!“ (S. 6, Z. 27f.) Woyzeck bleibt darauf nichts mehr zu sagen. Er ist dem Hauptmann zwar geistig überlegen, aber in der sozialen Stellung weit unterlegen und gehorcht seinem Vorgesetzten so stumm.

     

    Die zu analysierende Szene ist nicht unbedingt ausschlaggebend für den weiteren Verlauf des gesamten Dramas, jedoch zeigt sie bei mehreren Aspekten einen versteckten Vorverweis. Besonders die Ungerechtigkeit zwischen den Ständen wird deutlich und offenbart die schwere Last eines Lebens in der unteren Schicht. Auch das Eingeständnis Woyzecks, er könne sich keine Moral leisten, lässt vermuten, dass Woyzeck zu jeder Tat – selbst zu einem Mord – bereit wäre. Und schließlich wird in der Szene auch seine Beziehung zur Mutter seines Kindes erwähnt und enthüllt damit einen Handlungsstrang, dessen Entwicklung zur Katastrophe des Dramas führen wird.