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Hinführung
Wer kennt das nicht, man ist in einer mehr oder minder festen Beziehung und andauernd bekommt man die Sätze zu hören "Du verstehst mich nicht" oder "Du weißt gar nicht, wer ich bin!". Oft kann genau daran eine Beziehung scheitern, da zwei Menschen sich zwar zugetan sind, aber mit so unterschiedlichen Weltbildern und Erfahrungen in die Beziehung kommen, dass die Kommunikation sehr schwer fällt.
Goethes "Faust" zeigt in einer anderen Zeit und mit anderen Hintergründen eine ähnliche Situation.
Textvorstellung
Bevor die Tragödie überhaupt beginnt, ist ihr eine dreigeteilte Zueignung vorangestellt, in der ein aufklärerisches, deistisches Weltbild gezeichnet wird.
Im ersten Teil der Tragödie, auch als "Gelehrtentragödie" bezeichnet, in die am Schluß die sogenannte "Universitätssatiere" eingebaut ist, lernt der Leser den Gelehrten Heinrich Faust kennen, der innerhalb seines pantheistischen Weltbildes versucht die Welt so erkennen zu können, wie Gott es tut, und daran scheitert.
Dieser Faust schließt einen Packt mit Mephistopheles, in dem er unter anderem sagt, dass er fortan über die Sinnlichkeit die Welt erleben (V.1750) und eventuell sein Glück finden will, nämlich zum Augenblick zu sagen: "Verweile doch" (V. 1700).
Durch Mephisto gelangt Faust in die Hexenküche, in der er einer Verjüngungskur unterzogen wird und daraufhin einen Trank verabreicht bekommt, der ihn Helena in jedem Weibe sehen lässt (V. 2604).
Das erste Weib, das Faust sieht, ist Margarete (V.2605), die er forsch anspricht und die verwirrt darauf reagiert. Faust ist so fasziniert von Margaretens (Gretchens) Abbild, dass er Mephisto damit beauftragt, sie ihm zu beschafften und alles für ihn vorzubereiten. Dieser beschafft Schmuck für Gretchen und bringt Faust in ihr Zimmer, das dieser als "Heiligtum der Liebespein" (V. 2720) bezeichnet. Mephisto hinterlässt Gretchen den Schmuck, den sie faszinierend findet, zugleich aber auch merkt, dass er ihrem Stand nicht entspricht (V. 2804).
Im Endeffekt arrangiert Mephisto ein Treffen zwischen Faust und Gretchen im Garten von Gretchens Nachbarin Marte. Dort steigen die beiden, obwohl es erst ihre zweite Begegnung ist, gleich in ein Gespräch ein, das an dem kritischen Punkt ihrer Beziehung, nämlich ihrem Bildungs. bzw. Standesunterschied, ansetzt (V. 3073ff), den Gretchen halb bewusst, halb instinktiv als beunruhigend empfindet.
Dem eigentlichen Ziel ihrer Unterhaltung, nämlich der Annäherung, versucht Faust näher zu kommen, indem er den Standesunterschied abtut, dabei jedoch recht herablassend wirkt (V. 3079). Auch Gretchens Bedenken, dass der reisende Faust sie schnell wieder vergessen könnte (V.3099), wird nicht wirklich beantwortet. Faust spricht vielmehr monologisch überhöhend von ihr (V.3103) – und Gretchen, die sich in dieser Beschreibung nicht wiederfinden kann, behauptet, sie habe ihn schon erkannt (V.3125ff) und sie versucht ihre wirkliche Situation zu umreißen. Doch auch hier geht Faust nicht auf sie ein, sondern überhöht ihre Situation nur.
Interpretationsthese
Da dieser erste Versuch der Annäherung, der sehr ernst begonnen hat, recht erfolglos war, beginnen Faust und Margarete nun ein Versicherungsspiel, in dem für mich sehr deutlich wird, dass sie gerade wegen ihrer unterschiedlichen Weltbilder nicht fähig sind, sich zu erkennen und einander anzunähern – und es auch nie sein werden. Es ist interessant sich genau anzusehen, in wie fern sich die beiden innerhalb dieses Dialogstückes (V. 3163-3194) auf derselben oder auf unterschiedlichen Kommunikationsebenen befinden.
Analyse und Deutung
Die erste Ebene, die deutlich wird, ist die, dass Faust zu Gretchen als einer spricht, der sich versichern möchte (v. 3163), also das Spiel eröffnet. Er fängt mit einer eher unpersönlichen Frage an, nämlich ob sie noch gewusst hätte, wer er sei und bekommt die volle Vergewisserung von ihr (V. 3165), sie habe es genau gewusst, also muss ihre erste Begegnung auch für sie prägend genug gewesen sein. Faust treibt das Spiel und auch die Kommunikationsebene weiter. Seine nächste Vergewisserungsfrage beinhaltet schon eine ernstere Sorge (V. 3167), nämlich, ob er unverschämt gewesen sei? Wieder geht Gretchen auf sein Spiel ein, erzählt ihm ernsthaft, aber doch auf derselben Kommunikationsebene, dass es sie erschreckt und Selbstzweifel in ihr ausgelöst habe (V.3170). Aber dann treibt Gretchen das Spiel entscheidend weiter, indem sie eine neue Ebene hinzufügt, nämlich die, ihn ihrer Gefühle zu versichern (V. 3176ff). Das, was sie sich davon erhofft, nämlich dass er sich auch auf diese Ebene begibt und ihr seine Gefühle eröffnet, passiert nicht. Statt dessen sagt er nur etwas, das erkennen lässt, dass er sie wieder einmal nicht verstanden hat und auch nur das in ihr sieht, was er will – seine Projektion. Er sagt nicht einmal "Gretchen", sondern "Süß Liebchen" (V. 3179).
Gretchen, die seit Anfang des Spieles nur reaktiv auf Faust war, scheint nun zu erkennen, dass sie auf dieser Ebene des Versicherungspieles nicht weiter kommt, und zieht sich in ein Blumenzupfspiel zurück, das einerseits ihre kindliche Naivität, also ihr wahres Ich zeigt, das andererseits aber sehr aktiv Faust dazu provozieren soll, ihr seine Liebe zu gestehen. Sie tut so, als befrage sie die Blume um Rat. "Er liebt mich – er liebt mich nicht" (V. 3182). Sie möchte am Ende also direkt erfahren "Ich liebe dich!" und in ihrer Kindlichkeit freut sie sich schon über die Antwort, des Orakels "Er liebt dich" (V. 3184).
Was Faust ihr daraufhin antwortet ist nicht gerade das Erwartete, obwohl man es so verliebt und hoffnungsvoll, wie Gretchen ist, als das verstehen kann. Faust sagt, ihr eigentlich , dass sie, die Gläubige, doch nicht mehr nachfragen brauche, sondern sich auf das verlassen solle, was die göttliche Natur ihr gesagt habe, nämlich dass die Liebe zwischen ihnen gottgewollt sei (V.3185). Indem er das so sagt, stellt er sich auf die Ebene des Wissenden, der sie nur daran erinnern muss, was sie schon weiß. Außerdem spiegelt er nur sehr hohl ihre Erwartungen wider, weil er ihr im Prinzip als Echo ihrer selbst antwortet.
Das, was Gretchen kommunikativ als Reaktion ausdrücken will ist Glück (V.3187), vor allem deswegen weil in Faustens Formulierung viele Möglichkeiten stecken, sich Hoffnung zu machen. Aber ihre Körpersprache scheint etwas anderes auszudrücken. Offensichtlich ist sie sich irgendwo nicht sicher und spürt, dass etwas an Faustens Antwort nicht stimmt. Und vielleicht sogar, dass Fausts Reaktion auf sie im ganzen Garten-Dialog nicht wirklich stimmig ist. Jedenfalls muss ihre Körpersprache Angst ausdrücken, eventuell Angst vor dem weiteren Verlauf ihrer Beziehung, da Faust eine der seltenen Male sie als Gestalt vor sich erkennt und etwas entdeckt, dass nicht in "Mich überläufts" beinhaltet ist, sonst würde er nicht sagen "Oh schaudre nicht" (V. 3188). Doch dieser Fortschritt des wirklichen Sehens von Gretchen hält nicht lange, da Faust nun einige Fehler im Annähern macht, die Gretchen abschrecken müssen. Kommunikativ scheint das nächste, was er sagt, ausdrücken zu wollen, wie er die Sinnlichkeit mit ihr erleben möchte ("Sich hinzugeben, ganz und eine Wonne zu fühlen, die ewig sein muss", V.3191). Aber erstens ist dieser Ausspruch absolut unpersönlich, weil er ihm voranstellt, dass seine körperliche Geste ihr sagen soll, was unaussprechlich sei (V. 3189f), und der Ausspruch versucht das Unaussprechliche auszudrücken. Zweitens beinhaltet er einen massiven Widerspruch, da er sagt, dass ihre Liebe ewig sein müsse, weil das Ende andernfalls Verzweiflung sei (V. 3192f). Aber nichts ist ewig, alles ist endlich und somit muss Gretchen folgern, dass ihre Liebe nur in Verzweiflung enden kann, auch wenn Faust betont, dass es kein Ende gäbe.
Beides spielt sich auf einer dialogischen Ebene ab und soll Gretchen eigentlich nach wie vor versichern, dass ihre Liebe von Gott vorgesehen ist, und sie sie annehmen soll. Aber was Faust ihr hier sagt, bleibt im Grunde monologisch und muss Gretchen gleich noch einmal abschrecken, weil sie den gelehrten, zu sich selbst sprechenden Faust, nicht versteht.
Monologisch sagt Faust, was er sich von der Beziehung mit Gretchen erhofft, nämlich endlich sein Ziel, die Ewigkeit so eben durch Sinnlichkeit zu erreichen, er aber durch seine Erfahrungen als Faust der Gelehrtentragödie genau weiß, dass er diese Ewigkeit nie erreichen kann und deshalb die Beziehung ohnehin in Verzweiflung, zumindest für ihn, enden wird.
Gretchen spürt die schweren Fehler, die er macht, versteht ihn nicht, fühlt sich von diesem Zwang zu Ewigkeit oder Verzweiflung überfordert und rennt vor Faust und dem kommenden in der intuitiven Vorahnung, dass etwas nicht stimmt, weg.
Vertiefende Deutung und Wertung
Aber warum macht Faust solche Fehler? Warum scheint es auf keiner der versuchten Annäherungsebenen wirklich zur Annäherung zu kommen? Warum kann Faust Gretchen nicht sagen, dass er sie liebt, obwohl er sehr stark für sie empfindet?
Für Faustens Verhalten gibt es meiner Meinung nach zwei umfassende Erklärungen, die klar machen, wo seine Probleme liegen. Erstens sein pantheistisches Weltbild. Der Pantheismus erschafft die Welt, und genau das tut Faust auch. Er erschafft sich immer seine eigene Welt und in seinem Horizont existiert auch keine andere. Deswegen ist es ihm nicht wirklich möglich mit der realen Welt und ihren Gestalten zu kommunizieren. Ein Beispiel dafür, wie er sich die Welt erschafft, ist die Szene in Gretchens Zimmer. Er sieht das, was da ist, die Ordnung, die engen Grenzen, in denen Gretchen lebt, und baut sich damit seine eigene Vorstellung von Gretchens Leben ("In diesem Kerker welche Seligkeit" V.2694). Er sieht ihr Zimmer an sich und malt sich ohne Anhaltspunkte aus, wie sie dort ihre Kindheit verbracht hat (V.2700ff.). Seine Egozentrik ist eng mit seiner Tatenlosigkeit gekoppelt. Er entwirft die Dinge im Kopf, aber er handelt nicht. Am deutlichsten ist das wohl in V. 2362, als er es ablehnt handwerklich zu arbeiten und die Zauberei als Mittel der Verjüngung vorzieht. Seine Tatenlosigkeit hat zur Folge, dass er keine Erfahrung damit hat, eine Beziehung aufzubauen, diese Erfahrung aber auch nicht sammelt, da er alle möglichen Schritte auf dem Weg zur Annäherung an Gretchen, Mephisto überlässt. So z.B. in der Szene "Straße", als er sich nicht selbst darum bemühen will um Gretchen zu werben, sondern sagt "Hör, du musst mir die Dirne schaffen!" (V.2618 ). Daraus resultieren hauptsächlich die Fehler, die er im Annäherungs- und Versicherungsspiel mit Gretchen macht. Er weiß nicht, wie es geht, versucht es und schlägt fehl, am deutlichsten wohl in V. 3190. Aber sein pantheistisches Weltbild bringt noch ein Problem mit sich. Da es in ihm keine Individuen gibt, kann er das Individuum Gretchen auch nicht lieben. Außerdem kann er zum einen deswegen, zum anderen, weil er der Mensch ist, der in der Hexenküche entstanden ist, und durch den Trank Helena in jedem Weibe sieht, Gretchens wahre Gestalt nicht sehen. Er kann in sie nur das hinein projizieren, was er sich als Helena vorstellt. Deutlich wird das immer wieder an den Stellen, an dehnend er nicht auf sie eingeht, sondern einen leeren Spruch bringt, wie "Süß Liebchen"(V. 3179), oder "Du holdes Himmelsangesicht" (V. 3182). Er ist nicht fähig sie zu begreifen, selbst wenn er es wollte. Sein Weltbild und sein Ich aus der Hexenküche lassen das nicht zu.
Aber nicht nur Faust hat Probleme, sondern auch Gretchen. Sie behauptet zwar in V. 3107, dass sie seine Person begriffen habe, aber so ist es nicht. Sie hat ein eindeutig christlich-religiöses Weltbild (V. 2621, "kam von ihrem Pfaffen; V.2790, "oh Gott im Himmel, schau"), ist in einem Stand aufgewachsen, in dem sie zwar beschränkte Möglichkeiten hat, aber auch gelernt hat Stolz zu pflegen, hat viele familiäre Verpflichtungen (V. 3125ff.) und hat gelernt die höhergestellten Sände zu achten und zu hofieren. Auf Grund all dieser Voraussetzungen kann sie Faust nur als "erfahrenen Mann" sehen, zu dem sie aufschauen muss (V. 3077; "erfahner Mann"). Aber Faust ist keineswegs so erfahren, wie Gretchen ihn gerne hätte, auch wenn seine Erscheinung das vielleicht suggeriert. Somit projiziert auch Gretchen in Faust hinein, was sie zu sehen gelernt hat.
So gesehen wird klar, warum die Annäherung zwischen Gretchen und Faust auf allen Ebenen scheitert. Ihre beiden Weltbilder, pantheistisch und christlich, lassen sich nicht vereinen. Beide werden durch sie und andere Umstände dazu veranlasst in den anderen nur ein Bild zu projizieren und die eigentliche Person nicht zu sehen. Folglich muss die Annäherung und der Aufbau einer wirklichen Beziehung in der man einander erkennt und unterstützt scheitern.
Dass sie dennoch weiterhin versuchen eine Beziehung aufzubauen, vor allem weil Faust sein Ziel, den Moment, in dem er Ewigkeit spürt, noch immer nicht aufgeben will und weil Gretchen verliebt ist, ist für beide nicht ungefährlich.
Für Faust kann vor allem seine Tatenlosigkeit verhängnisvoll sein, weil er sich so, je näher er an Gretchen herankommen will, immer mehr Mephisto ausliefern muss und in seinen egozentrischen, nur sich selbst sehenden Handlungsmustern gefangen wird, sie immer wieder wiederholen muss.
Für Gretchen besteht die Gefahr, dass sie durch die Hoffnung, die sie in Faustens Verhalten und dessen eventuelle Liebe steckt, langsam ihre Identität, die durch Religion, ihren Stand und ihre Familiengebundenheit gekennzeichnet ist, verliert, um sich dem, was sie in Faust sieht, anzunähern. Anders als Faust, der daran gewöhnt ist, sich sein Weltbild zu erstellen und in Menschen zu projizieren, wird es sie bald lebensbedrohend aus der Bahn werfen, dass sie hier der Überzeugung ist, zu wissen, wer Faust ist.
Wenn man den weiteren Verlauf der Tragödie betrachtet, bestätigen sich diese Vermutungen weitestgehend.
Faust ist so abhängig von Mephisto, dass er ohne daran zu denken, dass es eine Teufelei sein könnte, Gretchen den Schlaftrunk für ihre Mutter gibt (V.3511), der die Mutter schließlich umbringt und dass er auf Mephistos Geheiß hin Valentin ersticht (V. 3711), als wenn Mephisto selbst handeln würde. Außerdem hat Faust immer noch den starken Hang, sich die Welt nur zu entwerfen, und verhält sich, obwohl er gelernt haben müsste, in "Wald und Höhle" genau so, wie im Osterspaziergang der Gelehrtentragödie. Er entwirft aus der Umwelt und Natur, die er sieht , seine eigene Welt (V. 3226, seine Brüder seien Busch, Luft und Wasser).
Gretchen überwindet ihre Bedenken, nimmt den Schlaftrunk für die Mutter an (alles nur für Faust,V.3514) und handelt gegen ihre Familie. Sie schläft mir Faust, handelt gegen ihren Glauben, wird schwanger und ist dadurch in ihrem Stand so gut wie geächtet. Somit verliert sie die Grundbausteine ihrer Identität, nur für das, was sie gerne in Faust sehen würde.
Gesamtwertung und Schluss
Auch wenn heute meistens Identität nicht mehr direkt an Stand und Religion festgemacht wird, gibt es dennoch genug Menschen, die ihre Identität für eine Beziehung aufgeben und somit sich selbst verlieren, oder heillose Egozentriker, mit denen jede Form von Kommunikation unmöglich ist.
Von daher finde ich, dass sich die Erkenntnisse über die Beziehung zwischen Faust und Gretchen sehr gut auch auf unsere Zeit übertragen lassen, und man sich überlegen sollte, in wie sehr man sie sich zu Herzen nimmt oder nicht.